Die veränderte Situation am Arbeitsmarkt – ausgelöst durch demografische Entwicklungen und der zunehmenden Digitalisierung von Bewerbungsprozessen – nehmen viele Unternehmen zum Anlass, sich darüber Gedanken zu machen, wie sie neue Mitarbeiter:innen ins Unternehmen holen können. Man hat, ausgelöst durch die Neugestaltung der Recruitingabläufe, begonnen Kanäle aufzubauen, und bewusst zielgruppengerechte Kommunikationswege etabliert. Daraus entstand der Begriff der „Candidate Journey“, ein Prozess, der die Reise eines potenziellen Mitarbeiters im Bewerbungsgeschehen beschreibt, und der für Unternehmen heute immer wichtiger wird.
In diesem Artikel wollen wir uns mit den Unterschieden in der Wahrnehmung der einzelnen Aktivitäten aus Perspektive eines Bewerbers und aus Sicht einer Recruiterin beschäftigen. Daraus ist unsere Grafik „Candidate Journey aus zwei Perspektiven“ entstanden.
Wir, Christine Moore (Digital, HR-Expertin und systemische Organisationsentwicklerin) und Cristoph Fabikan, Employer Branding Experte und Berater für digitale Unternehmensführung, haben jeden Schritt der Candidate Journey aus beiden Blickwinkel analysiert, indem wir uns in die emotionale Lebenswelten der jeweiligen Protagonisten Gruppen versetzt haben.
Zur Darstellung fanden wir die Emoticons sehr hilfreich, da sie unmissverständlich und sofort erfassbar die Geschichte der Reise aus beiden Blickwinkeln erzählen.
Als wir die Infografik fertiggestellt hatten, wollten wir wissen, ob eine HR-Expertin und erfahrene Recruiterin eine ähnliche Sichtweise auf die Candidate Journey mitbringt. Wir haben konnten dafür Nicole Derflinger, damals HR-Manager bei der Fa. Reisswolf gewinnen und sie hat uns freundlicherweise im Rahmen von einem Online-Interview ihr Feedback gegeben. Aus diesem Interview sind 4 Videos entstanden (siehe rechte Leiste).
Eine Bewerber:innen Reise wird üblicherweise als Prozess, der sechs vordefinierte Schritte beinhaltet, beschrieben. Diese Schritte sind für beide Protagonisten im Prozess ident, nur dass sie sich spiegelverkehrt und zeitverzögert abspielen. Die Reise der Bewerberin lässt sich in 1) Aufmerksam werden, 2) informieren, 3) Bewerben, 4) Bewerbungsgespräch führen, 5) Selektion, 6) Zusage oder 7) Absage, aufteilen.
In der ersten Phase sind die Kandidat:innen proaktiv und das Unternehmen hat Vorarbeit geleistet, um auf sich aufmerksam zu machen:
- Zunächst wird der Kandidat auf ein Unternehmen aufmerksam, weil er sich in sozialen Medien bewegt.
- Im nächsten Schritt informiert sich die Kandidatin über verschiedene Kanäle über die Organisation (Achtung: Kanal-Konflikte!), und wenn ihr guter Eindruck bestätigt wird, kommt es zu einer Bewerbung.
Nun werden beide Seiten aktiv und die Emotionen kommen stärker ins Spiel.
- Die Bewerbungsphase ist für beide Parteien der wichtigste Kontaktpunkt und gemeinsamer Grund zur Freude! Der zukünftige Arbeitgeber hat an diesem Punkt die Chance, vieles richtig zu machen (zielgruppenagerechte Bewerbungssysteme, Kontaktmöglichkeit, keine unnötigen Hindernisse).
Tut er das nicht, wird das Erlebnis noch lange im Gedächtnis des Kandidaten bleiben, und sein weiterführendes Verhalten entsprechend beeinflussen – er kann beispielsweise die Bewerbung zurückziehen, innerlich aufgeben, negative Erlebnisse weitererzählen oder sein Erfahrungen auf Social Media posten …
- Nach Einlangen der Bewerbung werden die Recruiter:innen aktiv und die Selektionsphase läuft an. Jetzt ist die Gefahr gegeben, dass die menschlichen Bedürfnisse der Kandidatin (z.B. wertschätzend über den Status des Prozesses informiert zu werden) kurzfristig den Vorgaben des Anforderungsprofils untergeordnet werden. Die Verunsicherung ist groß.
Die abschließende Phase gestaltet sich unterschiedlich – je nachdem welche Entscheidung zuvor getroffen wurde.
- Im Falle einer Zusage, sind Kandidat und Recruiter gleichermaßen zufriedengestellt. Lediglich auf Seiten des Bewerbers können offene Fragen und Unsicherheiten auftauchen, wenn das Unternehmen diese nicht vorweg aus dem Weg räumt.
Muss der Kandidatin abgesagt werden, ist die Enttäuschung auf ihrer Seite mit Sicherheit nachvollziehbar. Aber auch Recruiter:innen erleben Enttäuschungen, wenn die Bewerberin beispielsweise vom Charakter und Typ zum Unternehmen gut gepasst hätte, sie aber den formellen Anforderungen nicht entsprechen konnte. Gleiche Emotion, aus ganz unterschiedlichen Gründen!
Obwohl für den Kandidaten die Absage das Ende des Prozesses bedeutet, kann das Unternehmen zu diesem Zeitpunkt nochmals beim Bewerber punkten. Erfolgt die Absage zeitnah, persönlich und mit ehrlich gemeintem Angebot, die Bewerbungsunterlagen in Evidenz zu halten, kann sich die Recruiterin bei einer erneuten Vakanz viel Mühe ersparen.
Kommt es zum, von beiden Seiten ersehnten, positiven Ereignis des Bewerbungsgesprächs, findet auf beiden Seiten ein sogenannter „Reality Check“ statt. Beim Bewerbungsprozess sind beide Seiten bemüht, sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Kandidat:innen wollen mit der Beschreibung ihrer Erfahrungen und Qualifikationen maximal beeindrucken und Arbeitgeber beschreiben ihre Angebote und Karriereperspektiven in rosigen Tönen.
Nun sitzen sich beide Partien gegenüber. Aufgrund des derzeitigen Fachkräftemangels, hat sich das Kräfteverhältnis in Richtung Bewerberin verlagert. Passt die Kandidatin in Bezug auf die Formalkriterien und es kommt zu einer Zusage, muss die Recruiterin hoffen, dass ihr Angebot attraktiv genug ist und sich die mitunter unerwarteten Anliegen oder Wünsche der Bewerberin (in Bezug auf Teilzeit, Fortbildung, Home-Office, Ausstattung …) auch erfüllen lassen.
In unserer Grafik haben wir dieses neue Kräfteverhältnis mit der „die Welt steht Kopf“,🙃 Emoji dargestellt. Es wird noch etwas Zeit brauchen, bis sich alle an das „new normal“ gewöhnt haben!
Der Moment der Zusage lässt Bewerber und Recruiter die Herzchen in die Augen steigen. Die Freude ist groß und besonders der Kandidat empfindet Grund zum Feiern. Seine Hoffnungen wurden erfüllt und seine Bemühungen wurden belohnt. Dennoch können offene Fragen auf beiden Seite die gemeinsame Freude trüben.
Im Wesentlichen geht es zu diesem Zeitpunkt um Sicherheit: Obwohl diese beide Seiten jetzt brauchen, wird geschwiegen statt aktiv kommuniziert. Und so finden sich zwei „Thinking faces“ 🤔 gegenüber, die über die nicht gestellten Fragen nachdenken und vom jeweiligen anderen hoffen, dass er sich erwartungsgemäß verhalten wird.
Wann endet die Candidate Journey?
Mit der Zusage ist die Candidate Journey noch nicht vorbei, denn die Eintrittsphase, die, je nach Komplexität des Arbeitsfeldes zwischen 1 Monat und 2 Jahre dauern kann, kann dazugezählt werden. Hat die Kandidatin ihre Arbeit aufgenommen, kann die Perspektive und das Erleben der Arbeitnehmerin in Employee Experience Prozessen dargestellt werden.
Unsere Grafik beschreibt die Anliegen, Gefühlslagen und asynchronen Erwartungen einer typischen Bewerber:innenreise. Der Einfachheit halber haben wir verschiedene Symbole, für die jeweiligen Gefühlslagen eingesetzt. Betrachtet man die einzelnen Phasen, erkenne man, dass auf beiden Seiten viel auf dem Spiel steht. Von Euphorie bis Enttäuschung – und alles dazwischen wird durchlebt. Nur selten kommt es vor, dass beide Parteien zum gleichen Zeitpunkt „Herzchen“ in den Augen haben – lediglich bei der Abgabe der Bewerbung und im Falle einer Zusage sind beide Seiten gleichermaßen zufrieden.
Weiteres fällt auf, dass auf Seiten der Kandidat:innen immer wieder mit viel Hoffnung und Optimismus starten (ganz linke Spalte mit den Herzchen-Smileys). Diese optimistische Haltung verwandelt sich im Laufe der Journey dann aber zunehmend in Verunsicherung und sogar Ärgernis
Auf Recruiter:innen-Seite findet sich vermehrt das Emoji für „Thinking Face“ – das nachdenkliche Gesicht. Es gilt, sich an die neue Realität bezüglich Bewerberverhalten, demografische Unterschiede und die Auswirkungen eines Arbeitnehmermarktes, gekoppelt mit der Notwendigkeit, das eigene Mindset als Recruiter zu überdenken, anzupassen.
Was beide Seiten verbindet, ist der Druck zu entsprechen:
- der Kandidat, an die Anforderungen des Stellenprofils,
- der Recruiter, an die Anforderungen des Auftraggebers.
Es scheint wenig Spielraum zu geben und Graubereiche sind offenbar nicht vorgesehen (was aber nicht bedeutet, dass es sie nicht gibt). Ganz auf die Spitze betrachtet steht für beide Seiten das Überleben am Spiel. Die Kandidatin braucht Arbeit, die Recruiterin möchte ihre behalten…
Was sagt eine HR-Expertin dazu?
Wir haben uns sehr darüber gefreut, dass Frau Nicole Derflinger, HR Manager bei der Firma Reisswolf sich für ein Online-Interview zur Verfügung gestellt hat. Aus dem Online-Interview sind 4 Videos, in denen wir die einzelnen Phasen besprechen, entstanden.
Frau Derflinger hat während des Gesprächs auf beeindruckende Weise gezeigt, dass es beim Recruiting ganz stark um die Unternehmenskultur geht. Prozesse, Abläufe und standardisierte Kommunikationsschleifen bilden zwar das formalisierte Rückgrat des Geschehens, aber als Schlüssel zum Erfolg hat sie die Bereitschaft zum Beziehungsaufbau mit den interessierten Bewerber:innen eingebracht.
Ein weiterer Gelingensfaktor ist die Bereitschaft, die Veränderungen am Markt anzunehmen und die eigene Haltung als Recruiter zu reflektieren. Es war ihr auch wichtig zu betonen, dass wir – bei aller Begeisterung für Digitalisierung – nicht jene Gruppen außer Acht lassen dürfen, die technisch noch nicht so versiert sind, aber wertvolle und loyale Mitarbeiter:innen für das Unternehmen sein können.
Individualisieren so viel wie möglich und die verschiedenen Bewerberinnen-Gruppen nicht über einen Kamm scheren, – lautet die Devise!
Als zukünftiger Beitrag zu agilen Unternehmensentwicklung sollte man langsam damit beginnen „die Stellen an die Bewerber:innen zu bringen“ anstatt, umgekehrt, Menschen für vorgegebene Rollen und Aufgaben zu suchen.
Infografik Candidate Journey zum herunterladen
Höhen und Tiefen der Befindlichkeiten
Als Ergänzung zur Infografik „Candidate Journey“ haben wir die unterschiedlichen Emotionen auf beiden Seiten mit Zahlen bewertet und so eine „Grafik der Befindlichkeiten“ erstellt, bei der man sieht, dass die Höhen und Tiefen im Laufe des Bewerbungsprozesses unterschiedlich verlaufen. Anfangs steigt die Emotion bei dem Kandidat rapide an, die Aufmerksamkeit und das Interesse beflügeln die Gefühle. Naturgemäß sind Recruiter zu diesem Zeitpunkt weniger engagiert, weil diese die Außenkommunikation ihres Unternehmens nicht gänzlich beeinflussen können.
Sobald es Richtung Bewerbung und etwaiger Zusage geht, steigt das Interesse auf beiden Seiten, obwohl die Höhen auf Seiten der Kandidat:innen stärker ausgeprägt sind.
Diese, an Stellen zeitlich versetzte, emotionale Berg- und Talfahrt zeigt die Differenzen beider Player in der Candidate Journey auf.
Unser Fazit als Berater:innen: gelingende Candidate Journeys brauchen Menschlichkeit, Sensibilität und Achtsamkeit damit alle ihr Reiseziel wohlauf und zufrieden erreichen.
Videos zu Candidate Journey aus dem Interview mit HR-Expertin Nicole Derflinger
Über die Autoren von diesem Beitrag
Christine Moore
Expertin für agile Unternehmensentwicklung, Generationen Management und Digital HR
Ich bin immer auf dem neuesten Stand wenn es um Methoden und Technologien, welche Organisationen in ihrer Entwicklung unterstützen, geht. Ob online oder onsite, ob in der Rolle der Trainerin, des Coaches oder der Beraterin: mir gelingt es stets die Anliegen und Potentiale meiner Kunden:innen zu verstehen und zukunftsorientierte Lösungen mit ihnen zu entwickeln.
Berater-Profil
- Systemische Organisationsberaterin, Trainerin und Beraterin für Digital OE und neues Lernen
- Digital Excellence Practitioner
- Schulentwicklungsberaterin
- Demografieberaterin
- Systemischer Team Coach
- Beraterin von Netzwerken nach dem Community of Practice Ansatz
Cristoph Fabikan
Experte für Employer Branding, digitales Recruiting und digitale Transformation
Überzeugungskraft, analytisches & kreatives Denken und der unbedingte Wille etwas zu bewegen, prägen seit jeher meine Persönlichkeit. Als Geschäftsführer eines Handwerksunternehmens sammelte ich Erfahrungen in der Unternehmensführung. Dieses Know-how ergänzte ich mit einem Betriebswirtschaftsstudium mit den Schwerpunkten Unternehmensführung, und digitale Kommunikation und Employer Branding.
Während dieser Tätigkeit als Geschäftsführer, haben mich folgende Themen permanent begleitet:
- Der am Markt herrschende Personal- bzw. Fachkräftemangel, in Kombination mit der Herausforderung der Mitarbeitersuche & -gewinnung.
- Die allseits präsente Digitalisierung und dessen Auswirkungen in der Kommunikation
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